Nicht jede atypische Beschäftigung ist gleichzeitig prekär. Entscheidend ist, ob der Lohn für den Lebensunterhalt und die soziale Absicherung ausreicht. Wir dürfen durchaus den Anspruch erheben, dass „Schaffa“ im Ländle die Menschen zufrieden machen sollte“, sagte AK-Präsident Hubert Hämmerle bei der Präsentation der neuen AK-Studie zur Prekarität und Erwachsenenarmut in Vorarlberg. Schließlich sei das ja auch das Credo, das wir täglich von Politik und Wirtschaft hören. „Wenn Vorarlberg im Jahre 2035 der chancenreichste Lebensraum für Kinder sein soll, kommen die Ergebnisse, Forderungen und Empfehlungen aus dieser Studie gerade zum richtigen Zeitpunkt.“ Insgesamt ist die Prekarität in den letzten zehn Jahren generell gewachsen. Das gilt vor allem für Frauen in Teilzeit. (Bildnachweis: stock.adobe.com/Matej Kastelic)
„Wenn prekäre Jobs zunehmen, bedeutet das auch, dass Arbeits- und Lebensverhältnisse unsicherer werden. Deshalb stellen wir die Weiterentwicklung der Arbeitswelt und ihrer Rahmenbedingungen im Sinne der Beschäftigten auch in den Fokus unserer Arbeit“, so der AK-Präsident. Die Autorin der Studie, Dr.in Eva Häfele, hat bereits im Jahr 2008 im Auftrag der AK die Situation prekärer Arbeitsverhältnisse analysiert. Zehn Jahre später steht jetzt ein umfangreiches Update zur Verfügung, das die Entwicklung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Erwerbsarmut aufzeigt.
Prekarität weitet sich aus
Die Prekarität in Form atypischer Beschäftigungen ist in ihren unterschiedlichen Ausprägungen generell gewachsen. Dies gilt vor allem für die Beschäftigung von Frauen in Teilzeit. Deren Zahl ist innerhalb der letzten zehn Jahre am meisten gewachsen – nämlich um 6,1 auf 51,3 Prozent“, erklärt die Studienautorin. Das ist österreichweit der höchste Wert. Häfele: „Teilzeitbeschäftigung ist zwar eine atypische Beschäftigungsform, per se aber noch keine prekäre. Sie kann aber zu individueller Erwerbsarmut führen, wenn ein geringes Stundenausmaß und ein geringer Verdienst zusammenkommen. Hier macht sich bemerkbar, dass in letzter Zeit viele geringfügig beschäftigte Frauen in eine Teilzeitbeschäftigung mit geringem Stundenausmaß gewechselt haben.
Altersarmut vorprogrammiert
Die Zahlen für Vorarlberg zeigen, dass Teilzeitbeschäftigung noch immer eine frauenspezifische Beschäftigungsform ist, die meist in Niedriglohnbranchen zu finden ist. In Vorarlberg arbeiten rund 50.000 Menschen in Teilzeit, davon sind 43.400 weiblich. Besonders angestiegen ist die Quote bei Frauen im Alter von 35 bis 54 Jahre. „Dieser Anstieg ist auch deshalb besorgniserregend, weil so bei vielen Frauen der nahtlose Übergang von der Erwerbsarmut in die Altersarmut vorprogrammiert ist“, zeigt sich AK-Präsident Hämmerle besorgt.
Risikogruppen
Die Risikogruppen für Prekarität und Erwerbsarmut haben sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert. „Neben Teilzeit arbeitenden Frauen haben Beschäftigte in Niedriglohnbranchen sowie Geringqualifizierte mit maximal Pflichtschulabschluss das größte Risiko, immer wieder arbeitslos zu werden bzw. in eine dauerhafte Erwerbslosigkeit zu geraten“, erläutert Dr.in Häfele. Sie ist auch überzeugt, dass in diesem Zusammenhang der zweite Arbeitsmarkt ein unverzichtbares Instrument darstellt, um dem gegensteuern zu können.
Weitere Entwicklungen seit 2008
• Zuwanderung aus den EU-Staaten und seit 2015 auch von Geflüchteten haben neue Entwicklungen am Arbeitsmarkt ausgelöst. Digitalisierung und Automatisierung haben zugenommen und werden in den nächsten Jahren sowohl die Produktions- als auch die Dienstleistungsbranchen beeinflussen.
• Die Zahl der geringfügig Beschäftigten ist zwar leicht rückläufig, dafür nehmen neue Erwerbsformen wie Crowdworking und Sharing-Plattformen zu. Bei den selbstständig Erwerbstätigen geht das zahlenmäßige Wachstum vor allem auf die Ein-Personen-Unternehmen (EPU) zurück. Hier vor allem auf die von Frauen gegründeten Unternehmen und ganz konkret auf die wachsende Zahl der selbstständigen Personenbetreuerinnen (24-Stunden-Pflege).
• Bei den Arbeitskräfteüberlassungen (Leasingarbeiter) gibt es eine Zunahme bei Personen aus dem EWR-Ausland und auch die Zahl der ausländischen Beschäftigten nach der EU-Entsenderichtlinie steigt kontinuierlich an.
„Gerade in der aktuellen politischen Situation müssen wir noch stärker auf jene Menschen blicken, die wegen prekärer Beschäftigung an der Armutsgrenze arbeiten“, betont AK-Präsident Hämmerle. „Auch diese Menschen leisten tagtäglich ihren Beitrag zur erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung Vorarlbergs. Arbeit soll Perspektiven eröffnen und nicht Ängste über die persönliche Zukunft erzeugen“, so Hämmerle. „Das wäre wirtschaftspolitisch falsch und auch den Risikogruppen gegenüber unfair.“
Man habe bereits im AK-Positionspapier „Schaffa in Vorarlberg“ festgestellt, dass auf Arbeitsmarkteffekte, welche durch neue Entwicklungen ausgelöst werden, reagiert werden muss. „Mit dem Digital Campus haben AK, WK und Land erste Akzente gesetzt. Wir werden uns auch sicher überlegen, wie wir das Thema Prekarität hier berücksichtigen können“, verspricht der AK-Präsident.
Einbeziehung von mehrfach geringfügig Beschäftigten in die Arbeitslosenversicherung
Im Studienzeitraum hat die Anzahl der geringfügig Beschäftigten österreichweit um 27,6 Prozent zugenommen. Rund die Hälfte dieser Personen weisen weitere Versicherungsverhältnisse auf. Viele mehrfach geringfügig Beschäftigte, die die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten, sind zwar kranken- und pensionsversichert, jedoch nicht arbeitslosenversichert. Für den Fall der Arbeitslosigkeit erwerben sie damit keine Leistungsansprüche.
Empfehlung und Forderung: Mehrfach geringfügig Beschäftigte müssen in die Arbeitslosenversicherung miteinbezogen werden, sollte aus diesen Beschäftigungsverhältnissen pro Monat ein Entgelt erzielt werden, welches über der Geringfügigkeitsgrenze liegt (2018: 438,05 Euro brutto). Personen mit nur einem Beschäftigungsverhältnis unter einem Einkommen von 1.648,– Euro brutto (Stand: Juli 2018) haben keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu leisten. Durch die Umsetzung dieser Forderung würde eine Gleichstellung mehrfach geringfügig Beschäftigter erreicht.
Verpflichtendes Pensionssplitting
Mit steigendem Alter klafft die Einkommensschere zwischen Männer und Frauen stärker auseinander. Die Pensionsschere öffnet sich doppelt so weit wie die Einkommensschere – trotz Ausgleichszulage. Verknüpft mit der lebenslangen Durchrechnung der Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung ergibt das für viele Frauen eine deutlich niedrigere Pension und führt sehr oft zu Altersarmut. Während sich die Einkommensschere langsam schließt, geht die Pensionsschere zwischen den Geschlechtern weiter auseinander. Dies ist sozial- und gesellschaftspolitisch bedenklich und ungerecht.
Empfehlung und Forderung: Für die ersten sieben Lebensjahre des Kindes wird ein verpflichtendes Pensionssplitting wirksam. Grundlage für die Bemessung ist die Summe der Bezüge beider Eltern. Für die Dauer des Pensionssplittings werden die Teilpensionsgutschriften zu jeweils 50 Prozent auf die Pensionskonten der Eltern übertragen. Für weitere Kinder bzw. weitere Partnerschaften werden die Berechnungsgrundlagen entsprechend der Situation der Partnerschaften angepasst berechnet.
Mindestlohn von 1.700,– Euro
Die Entwicklung des Arbeitsmarktes, insbesondere die Verbreitung atypischer und oft zugleich prekärer Beschäftigung, ist eine Herausforderung für die Arbeitsmarktpolitik. Viele prekäre Arbeitsverhältnisse finden sich in den Niedriglohnbranchen. Insbesondere Frauen sind davon stark betroffen. Von 84 600 Arbeitnehmerinnen in Vorarlberg arbeiten mehr als 43 400 in Teilzeit – über 51 Prozent. Gerade hier würde ein höherer Mindestlohn auch für Teilzeitbeschäftigte eine Verbesserung der Lebenssituation mit sich bringen. 40 Prozent der Frauen arbeiten in Teilzeit, weil sie ihre Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Nur ein Viertel der teilzeitbeschäftigten Frauen wünschen keine Vollzeitstelle.
Empfehlung und Forderung: Schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf 1.700,– Euro brutto bei Vollzeit in allen Branchen.
Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Eine aktuelle, repräsentative Umfrage der AK Vorarlberg zeigt, dass insbesondere für alleinerziehende, berufstätige Frauen das Kinderbetreuungsangebot oft nicht ihrer Lebens- und Familiensituation entspricht. 48 Prozent der Vorarlberger Familien bezeichnen die Betreuungszeiten für ihre familiäre Situation als unzureichend, bei den Alleinerziehenden sind es 72 Prozent. 76 Prozent der Alleinerziehenden sind durch die Betreuungskosten finanziell belastet. Diese Kumulation von Herausforderungen für Alleinerziehende mit Betreuungspflichten für Kinder ist speziell in den ersten sieben Lebensjahren der Kinder für die ganze Familie oft ein Kampf ums wirtschaftliche Überleben. Immerhin 22 Prozent der Haushalte mit Kindern bis sieben Jahre sind alleinerziehend.
Empfehlung und Forderung: Verbesserung der Öffnungszeiten (der Betreuungseinrichtungen) sowie Ausweitung der Betreuungsangebote während der Ferien. Diese Maßnahmen würden insbesondere für Ein-Eltern-Haushalte eine massive Erleichterung bedeuten, wodurch Frauen sich überhaupt bzw. in einem höheren Ausmaß am Arbeitsmarkt beteiligen können. Eine Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit (in Vollzeit oder höherer Teilzeit) schützt Frauen bzw. Familien unmittelbar vor Prekarität und verhilft zu höheren Haushaltseinkommen. Die Armutsgefährdung wird verringert und die Lebenseinkommen werden erhöht. Die besseren Einkommensverläufe resultieren damit auch zu armutsfesten sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen im Fall von Krankheit, Unfall und Alter.
Begriffserklärung
„Prekarität“ – strukturell unsichere Lage eines Menschen
„Prekariat“ – soziales Feld bzw. soziale Schicht der „Prekären“
„Prekarisierung“ – Prozess, der Prekarität bewirkt
Die Studienautorin Dr.in Eva Häfele hat in ihrer Arbeit auch jene Handlungsfelder definiert, die notwendig sind, damit Prekarisierung eingedämmt und drohender Erwerbsarmut entgegegewirkt werden kann.
Arbeitsmarkt
• Schaffung eines zweiten Arbeitsmarktes
• Existenzsichernde Unterstützung für arbeitslose Menschen
Automatisierung und Digitalisierung
• Monitoring und Folgekostenabschätzung für Automatisierungs- und Digitalisierungsprozesse
• Soziale Absicherung der Crowdworker
• Gesetzliche Fassung der Online-Plattformen als Arbeitsagenturen mit festgelegten Pflichten gegenüber den KlientInnen
• Diagnostik und Prognose des Kompetenzbedarfs auf betrieblicher Ebene
Verschuldung, Grundsicherung und Referenzbudgets
• Basiskonto für alle
• Erhöhung des Existenzminimums bei Pfändungen
• Überschuldungsgefährdung bei NiedriglohnbezieherInnen
• Leistbares Wohnen
• Gute Grundsicherung
• Referenzbudgets der österreichischen Schuldenberatung
Bildung und weitere Qualifizierung
• Weiterqualifizierung von niedrigqualifizierten jungen Erwachsenen
• Kompetenzbilanzierung und Formalisierung von praktischen informellen Qualifikationen
• LeiharbeiterInnen in die berufliche Bildung einbinden
Information und Kommunikation
• LeiharbeiterInnen über Betriebsräte informieren
• Teilzeit oder geringfügige Beschäftigung?
Integrierte Politikfelder
• Lohnpolitik
• Reduktion des Gender Pay Gaps
• Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer
• Verbesserung der beschäftigungsbezogenen Rahmenbedingungen für Ein-Eltern-Haushalte
• Reduktion der Altersarmut und Altersprekarität
Forum für die Herausforderungen der Zukunft
• Dialog zwischen Politik, Interessenvertretungen, ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen
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