Pflegende Angehörige sind das Rückgrat des Pflegesystems. Gäbe es sie nicht, wäre Pflege schlichtweg unfinanzierbar. „Der Preis, den sie selber zu zahlen bereit sind, ist hoch“, betont AKPräsident Hubert Hämmerle. „Sie leisten viel ohne Bezahlung. Viele geben ihre Berufe auf. Sie nehmen in Kauf, später nicht mehr einsteigen zu können. Dann ist der Abstand zur Arbeitswelt längst zu groß geworden. Das darf nicht sein.“ Die AK Vorarlberg legt ein Modell vor, das eine Anstellung und Ausbildung der pflegenden Angehörigen analog zu einem Pilotprojekt im Burgenland vorsieht.
Österreichweit gibt es Schätzungen zufolge eine Million pflegende Angehörige. In Vorarlberg werden an die 80 Prozent der zu Pflegenden von ihren Angehörigen zuhause versorgt. Genaue Zahlen gibt es nicht, viele Menschen leisten diese Arbeit quasi im Dunkeln und verzichten auf zahlreiche Hilfsangebote. Sie pflegen ehrenamtlich, mit allen Konsequenzen. Selbst, wenn sie ihren Beruf aufgeben müssen. Oft tun sie das bis zur totalen Erschöpfung.
Pflegebedürftige Menschen wollen zuhause gepflegt werden – das sagt die überwiegende Mehrheit der Betroffenen. Unterstützt werden die Familien in Vorarlberg durch ein hervorragend ausgebautes Netz an mobilen Diensten, etwa die Hauskrankenpflege mit ihren 66 Vereinen, die Mobilen Hilfsdienste und die 24-Stunden-Betreuung. „Doch das Vorarlberger Pflege- und Betreuungsmodell gerät zusehends an seine Grenzen“, sagt Hämmerle.
• Geänderte familiäre Strukturen (Kleinfamilien, Einpersonenhaushalte) und beengte Wohnverhältnisse lassen Pflege und Betreuung zuhause in der heutigen Qualität immer seltener zu.
• Noch immer wird die Pflege von Angehörigen mehrheitlich durch Frauen bewältigt. Der Anteil der Frauen beträgt in der häuslichen Pflege 73 Prozent. Aber immer mehr Frauen wollen und müssen berufstätig sein. Diese Zahl schwindet also von Jahr zu Jahr.
• „Immer weniger pflegende Angehörige können einfach Ihren Brotberuf an den Nagel hängen. Sie brauchen das Geld zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts“, betont der AK-Präsident. Schon gar, wenn sie nur niedrige und mittlere Einkommen verdienen. Aber weil es nur seltenErsparnisse gibt, müssen sie die Doppelbelastung von Beruf und Pflege in Kauf nehmen.
Dass größtenteils Pensionisten Pflegeaufgaben tragen, ist übrigens eine Mär: 68 Prozent der pflegenden Angehörigen sind zwischen 18 und 64 Jahre alt und damit im erwerbsfähigen Alter. Eine Studie im Auftrag des Sozialministeriums aus dem Jahr 2018 belegt, dass noch immer jede(r) dritte pflegende Angehörige (28 Prozent) ihren bzw. seinen Beruf auf Grund von Pflege- und Betreuungsaufgaben einschränkt oder ganz aufgibt. Diese Zahl wird schrumpfen, wenn die Wahl auch in Zukunft ehrenamtliche Pflege „für Gotteslohn“ oder existenzsichernde Erwerbsarbeit heißt.
• Die personellen Ressourcen in der Pflege reichen bald schon hinten und vorne nicht mehr aus. Professionelle Pflegekräfte fehlen in der Hauskrankenpflege, bei den Mobilen Hilfsdiensten, aber auch für die stationäre Pflege in Pflegeheimen. Warum? Einerseits hat die Corona- Krise eindrücklich gezeigt, wie dringend der Personalschlüssel überarbeitet werden muss. Landesrätin Katharina Wiesflecker hat bereits angekündigt, in einem ersten Schritt die Nachtdienste entlasten zu wollen. Das geht nur mit mehr Personal. Andererseits plant das Land bis 2025 die Erweiterung der Kapazität um 160 zusätzliche Pflegebetten.
Die anstehenden Pensionierungen der Babyboomer-Generation dünnt die Personalpläne aus. Gleichzeitig wächst die potentielle Zahl der Klienten. In fünf Jahren etwa werden in Vorarlberg 11.600 Menschen hoch betagt sein.
• Ein Teil des Problems ist auch hausgemacht: So wird die undurchdacht beschlossene Verlagerung der Diplompflegeausbildung von den Gesundheits- und Krankenpflegeschulen in die Bachelor-Ausbildung an den Fachhochschulen eine Lücke aufreißen. Ein Blick auf die Krankenpflegeschule Feldkirch spricht Bände: Mit Stand Juni 2020 haben sich 257 Personen online für die Diplomausbildung interessiert, 178 haben sich persönlich vorgestellt. Aber nur 13 Vorstellungsgespräche kamen für die Ausbildung zur Pflegeassistenz und ganze zwei für die Pflegefachassistenz zustande. Die Pflegebedarfsprognose des Landes Vorarlberg mahnte schon 2017, dass in Vorarlberg bis 2030 jährlich bis zu 400 ausgebildete Pflegekräfte fehlen werden. Die Arbeitsbedingungen aber – hoher Druck und geringe Bezahlung lassen es wenig attraktiv erscheinen, einen Pflegeberuf zu ergreifen.
• Bleiben die Kosten: Den Personalschlüssel in den Heimen zu verbessern,wird das Land in den kommenden Jahren 23 bis 25 Millionen Euro kosten. Die Kosten für die geplanten 160 zusätzlichen Pflegebetten in den neu zu errichtenden bzw. zu erweiternden Pflegeheimen kommen noch hinzu. Es kann also nur das Bestreben sein, so viele Menschen so lange wie möglich zuhause zu pflegen. Aus der Not heraus zunehmend auf stationäre Pflege zu setzen, ist schlichtweg unfinanzierbar. „Wenn es aber ohnedies der Wunsch der Menschen ist, zu Hause gepflegt zu werden und das Land nach eigenen Angaben dies auch künftig ermöglichen will, dann müssen die Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige so verbessert werden, dass Pflege zu Hause künftig auch für Berufstätige möglich ist!“, das unterstreicht der AK-Präsident. Die AK Vorarlberg fordert daher die Einführung eines Modells der Anstellung von pflegenden Angehörigen im erwerbsfähigen Alter – analog zu einem Pilotprojekt, das im Burgenland aktuell erfolgreich umgesetzt wird.
Die AK will in ihrem Modell die Gruppe der pflegenden Angehörigen im erwerbsfähigen Alter entlasten. „Pflege zuhause soll nicht länger zwangsläufig mit dem Fernbleiben vom Arbeitsmarkt und den daraus folgenden Einbußen an Einkommen und den Sozialversicherungsleistungen bestraft werden“, bekräftigt Hämmerle. „Das ist schlicht ungerecht und erhöht das Risiko, später in die Altersarmut zu schlittern bzw. selbst zum Pflegefall zu werden.“ Gerade pflegende Angehörige, die sich eine 24-Stunden-Pflegekraft nicht leisten können oder wollen und für die Beruf plus Pflege oft eine gesundheitsgefährdende Doppelbelastung darstellt und jene, die aufgrund der Pflegeverpflichtung vom Arbeitsmarkt aussteigen mussten, profitieren vom Modell der AK.
AK-Gesundheitsreferent Manfred Brunner erläutert das AK-Modell für die Pflege daheim: „Pflegende Angehörige im erwerbsfähigen Alter werden über eine gemeinnützige Tochtergesellschaft des Vorarlberger Hauskrankenpflegeverbands je nach Höhe der Pflegestufe in Vollzeit oder Teilzeit angestellt.“ Die Vernetzung mit der Hauskrankenpflege bietet den Vorteil, dass pflegende Angehörige über die bestehenden Strukturen des Verbands beraten werden können und bei Bedarf Supervision erfahren. „Medizinische Hauskrankenpflege steht ihnen erforderlichenfalls jederzeit abrufbar zur Seite.“
Bei Pflegestufe 3 umfasst das Anstellungsverhältnis 20 Wochenstunden, bei Pflegestufe 4 sind es 30 Stunden und ab Pflegestufe 5 erfolgt die Anstellung in Vollzeit mit 40 Wochenstunden. Eine Vollzeitanstellung wird mit 1700 Euro netto entlohnt.
Wie finanziert sich das Modell? „Zur Abdeckung der Kosten behält das Land Vorarlberg die Pension des zu Pflegenden über dem Ausgleichszulagenrichtsatz (derzeit 966,65 Euro) und 80 Prozent des Pflegegeldes ein. Den Rest deckt das Land.“
Die pflegenden Angehörigen erhalten neben der Entlohnung und der Versicherung eine Grundausbildung für die Betreuung durch pflegende Angehörige. Binnen eines Jahres nach Dienstantritt sieht das AKModell verpflichtend den Abschluss des Vorbereitungslehrgangs zur HeimhelferInnenausbildung (100 Stunden) vor. Freiwillig können die pflegenden Angehörigen auch die gesamte Ausbildung (400 Stunden) absolvieren. Sie umfasst 200 Stunden Theorie und 200 Stunden Praxis. Brunner: „Wenn pflegende Angehörige eine Anstellung über dieses Modell wollen, müssen sie sich zum Abschluss des Vorbereitungslehrgangs verpflichten.“ Die gesamte HeimhelferInnenausbildung stellt das Land kostenlos zur Verfügung.
Warum ist das so wichtig? „Alle Pflegeverhältnisse enden eines Tages.“ Damit ginge auch das Anstellungsverhältnis über die gemeinnützige Tochtergesellschaft des Vorarlberger Hauskrankenpflegeverbands zu Ende. Was dann? „Mit einer entsprechenden Ausbildung können die Betroffenen nach beendeter Pflege ihres Angehörigen zu Hause am Arbeitsmarkt Fuß fassen.“ Sie können im Bereich der Pflege und Betreuung weiter arbeiten und haben den ersten Schritt zur Pflegeassistenz bereits getan, weil die Heimhilfeausbildung auf die Ausbildung zur Pflegeassistenz angerechnet werden kann. „Aufgrund des aktuellen und künftig zu erwartenden Personalmangels im Pflegebereich würde das Modell der AK Vorarlberg helfen, große Lücken zu schließen und den Arbeitsmarkt zu entlasten“, ist Brunner überzeugt.
Voraussetzungen des pflegenden Angehörigen für die Anstellung:
o Verwandtschaft zum Pflegebedürftigen (bis 2. Parentel)
o Geschäftsfähigkeit und kein Bezug einer Pensionsleistung
o Körperliche, gesundheitliche und persönliche Eignung
o Kooperation mit diplomierten Personal bei Unterstützungsbesuchen
Die bestehenden Instrumente zur Entlastung pflegender Angehöriger reichen nicht aus. Der Bezug von Pflegekarenzgeld ist mit sechs Monaten befristet. Die finanzielle Förderung für eine 24-Stunden-Betreuung ist für viele betroffene Familien zu niedrig. Sie können die 24-Stunden-Hilfe nicht in Anspruch nehmen. Auch Pflegekarenz und Pflegeteilzeit sind zeitlich befristet. Jede noch so notwendige Verlängerung hängt an der Zustimmung des Arbeitgebers.
Würde das Land das AK-Modell für die Pflege daheim als Pilotprojekt für 200 pflegende Angehörige anbieten, müsste es dafür in zwei Jahren Kosten von 7,4 Millionen Euro in Kauf nehmen. „Müssten die zuhause Betreuten statt dessen in ein Pflegeheim, weil die pflegenden Angehörigen die Belastung nicht mehr tragen können, wären die Kosten auf zwei Jahre betrachtet um 1,1 Millionen Euro höher“, so Brunner. Dass jeder Cent an Einsparung Not tut, unterstreicht ein Blick auf die Gesamtkosten der Pflege, die der Steuerzahler heuer finanzieren muss: Insgesamt schlägt das Vorarlberger Pflegesystem 2020 mit rund 270 Millionen Euro zu Buche.
Beispiel: Pflegegeldstufe 3
Pflegebedürftige Person Anna
Pension monatlich 1150 Euro
Davon behält das Land den Teil bis zum Ausgleichzulagenrichtsatz (966,65 Euro) ein, das sind 183,35 Euro Selbstbehalt Pflegegeld Stufe 3: 459,90 Euro, davon gehen 80 Prozent an das Land Vorarlberg (ca. 367.92 Euro) Selbstbehalt
Pflegender Angehöriger Karl
Beschäftigung 20 Wochenstunden; Nettoeinkommen rund 1050 Euro
Kosten
AK-Modell: Bruttolohn + Dienstgeber-Anteil 1600 Euro
Stationär: Pflegeheim-Platz 3370 Euro
Förderaufwand Land Vorarlberg (Kosten abzüglich Selbstbehalt)
AK-Modell: 1049 Euro
Stationär: 2036 Euro
Ersparnis gegenüber einem Pflegeplatz 987 Euro
Beispiel: Pflegegeldstufe 4
Pflegebedürftige Person Anton
Pension monatlich 1150 Euro
Davon behält das Land den Teil bis zum Ausgleichzulagenrichtsatz (966,65 Euro) ein, das sind 183,35 Euro Selbstbehalt Pflegegeld Stufe 4: 689,80 Euro, davon gehen 80 Prozent an das Land Vorarlberg (ca. 551,84 Euro) Selbstbehalt
Pflegende Angehörige Karla
Beschäftigung 30 Wochenstunden; Nettoeinkommen rund 1400 Euro
Kosten
AK-Modell: Bruttolohn + DG-Anteil 2400 Euro
Stationär: Pflegeheim-Platz 4450 Euro
Förderaufwand Land Vorarlberg (Kosten abzüglich Selbstbehalt)
AK-Modell: 1665 Euro
Stationär: 2886 Euro
Ersparnis gegenüber einem Pflegeplatz 1221 Euro
Beispiel: Pflegegeldstufe 5
Pflegebedürftige Person Astrid
Pension monatlich 1150 Euro
Davon behält das Land den Teil bis zum Ausgleichzulagenrichtsatz (966,65 Euro), das sind 183,35 Euro Selbstbehalt Pflegegeld Stufe 5: 936,90 Euro, davon 80 Prozent an das Land Vorarlberg
(ca. 749,52 Euro) Selbstbehalt
Pflegende Angehörige Korinna
Beschäftigung Vollzeit; Nettoeinkommen 1700 Euro
Kosten
AK-Modell: Bruttolohn + DG-Anteil 3100 Euro
Stationär: Pflegeheim-Platz 5200 Euro
Förderaufwand Land Vorarlberg (Kosten abzüglich Selbstbehalt)
AK-Modell 2167 Euro
Stationär 3389 Euro
Ersparnis gegenüber einem Pflegeplatz 1222 Euro
Die Gesamtkosten des Pilotprojekts belaufen sich bei einer Teilnehmeranzahl von 200 und einer Laufzeit von zwei Jahren auf 7,4 Millionen Euro. Die Ersparnis gegenüber einer stationären Pflege liegen bei 1,1 Millionen Euro.
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